Einführendes zum Werk:
Bei dem Buch-Projekt >Enzyklop<
handelt es sich auf den ersten Blick und nach sofort ersichtlicher
und folgerichtiger Deutung des Arbeitstitels - um nichts weiter als um
eine Zusammenstellung von Wörtern, welche alphabetisch aneinander
gereiht worden sind. Allein schon dadurch definiert sich das Genre des
Werkes, nämlich das der Nachschlagewerke. Die Aufmachung des Buches
soll den unkomplizierten und allfälligen Eindruck von Seriösität
und Glaubhaftigkeit erwecken. Der Leser soll zumindest anfangs glauben,
ein normales Wörterbuch oder Lexikon vor sich zu haben. Umschlag,
Titel und Layout tragen diesem Umstand Rechnung.
Die Ursache:
Den Anstoß zu dem vorliegenden Werk gab vor einigen Jahren die künstlerische
Auseinandersetzung mit Herders Volkslexikon (Ausgabe 1956). Durch das
Studium und die Verwendung des Bild- und Textmaterials in Collagen wurde
ich auf anregende, über die Rezeption hinausgehende Weise mit dem
absurden und surrealen Charakter eines typischen Allgemeinlexikons vertraut.
Später kamen Nachschlagewerke anderer Herausgeber und Zeiten hinzu;
an meinen neuen, grundlegenden Erkenntnissen über das vielfältige
Wesen der Lexikalität haben aber auch Kindler, Brockhaus und andere
große Namen nichts mehr geändert.
Lexika im Allgemeinen, der Enzyklop im Speziellen:
Vor allem in den in Normalhaushalten meist verbreiteten älteren Lexikon-Ausgaben
erscheinen viele Einträge durch die Diskrepanz zwischen bereits veraltetem
Wissensgehalt und dem jeden Einwand ausschließenden wissenschaftlichen
Tonfall nahezu absurd. Auch die meisten ªneuesten Auflagen´
übernehmen diese Wirkung, da sie sich doch stets aus den alten Quellen
generieren. Der surreale Aspekt eröffnet sich dem Leser, wenn er
im zufälligen Nebeneinander von Begriffen und Abbildungen mehr als
nur die alliterative, alphabetische Aufzählung von erläuterten
Schlagwörtern sucht. Allein durch die gemeinsame Aufnahme zwischen
zwei Buchdeckeln rücken die verschiedensten Dinge nahe zusammen -
näher, als es den Gelehrten der Welt lieb sein kann: >Erörtern,
Eros und Erosion< zum Beispiel lassen sich nämlich - aller sogenannten
Logik zum Trotz - durchaus in eine sinnvolle Beziehung zueinander bringen.
Als Resultat dieser kaum berechenbaren Zusammenhänge gesellen sich
zu den bestehenden, von den Lexikonautoren vermittelten anerkannten Inhalten
also vielfältige neue Bedeutungen dazu. Das Anliegen des >Enzyklop<
ist es, diesen Wechselwirkungen zwischen dem statischen Wissen unserer
Welt eine annähernde Geltung zu verschaffen, indem es eine redaktionell
durchdachte Auswahl der letztendlich endlosen Sekundärbeziehungen
vorstellt. Es bleibt allein bei der Präsentation. Die übergreifende
Deutung des gesamten Umstandes bleibt vorerst dem Benutzer selbst überlassen.
Der Inhalt
Nach den ersten Jahren meiner Beschäftigung als Sublexikograph konzentriere
ich mich auf rund 4.000 Begriffe. Zum größten Teil sind es
Neuschöpfungen, welche durch kleine Veränderungen an existierenden
Wörtern oder durch Neukombinationen von Bedeutungseinheiten entstanden
sind. Die meisten habe ich durch assoziative Verfahrensweisen gefunden;
gelegentlich waren aber auch gezielte Recherchen in einzelnen Wortgruppen
notwendig. Entstanden ist eine Sammlung von Wörtern für Inhalte,
welche es bislang noch nicht gibt - beziehungsweise von Inhalten, für
welche es bis jetzt noch kein Wort gab. Das Besondere an jedem der Worte
ist nun gerade dieses Neuland, welches der Lesende durch das Lesen entdeckt
und ausgestaltet. Seine Kreativität und Interpretationsgabe erfindet
zu den Worten Vorstellungen, Begriffe, Bilder. Im Unterschied zum Lesen
von ªnormalen´ Wörtern ist dies für das Lesen des
>Enzyklops< aber unabdingbar; gleichzeitig wird dem Leser ebendieser
Prozess auch bewusst. Das Interpretationsfeld ist von Wort zu Wort unterschiedlich
groß. Es gibt sehr konkrete Einträge, welche dem Leser wenig
Freiheit bei diesem Vorgang lassen. Es finden sich aber auch Wörter
in der Sammlung, welche das Spielfeld von Möglichkeiten bewusst weit
fassen.
Die Form
Es gibt wohl keine andere Form als die des Lexikons selbst, um diese Zusammenstellung
von Wortschöpfungen nebeneinander bestehen zu lassen. Die reallexikalische
Tradition gibt eine minimale Struktur vor (das Stichwort bzw. die alphabetische
Aufreihung von Stichworten), lässt bei Bedarf aber die Möglichkeit
offen, ein Schlagwort durch Anfügen von Genus, einer Wortfamilie,
einer Erklärung, eines Beispielsatzes, eines Verweises oder eines
Bildes näher einzugrenzen oder aber auch wieder aufzulösen und
durch neue Interpretationsmöglichkeiten zu erweitern. Gleichzeitig
wird via Verweis und Erklärung ein zusätzlicher Zugriff von
vermeintlich inhaltlicher Natur auf andere Schlagworte ermöglicht
und mit dieser Textur die Fiktion des Sachbuches länger aufrechterhalten.
Die Funktion
Das entstandene Werk als Essenz einer Vielzahl enzyklopädischer Einträge
verschiedener Quellen gibt nun also vor, seinerseits eine Enzyklopädie
zu sein - ein Buch, welches dem Erhalt und der Verbreitung von Wissen
und objektiver Wahrheit dienen soll. Der Inhalt bewirkt durch seine Subversivität
jedoch etwas Gegenteiliges, nämlich die Relativierung von Wahrnehmung
und die Auflösung oder zumindest Erweiterung begrifflicher Grenzen.
Er macht den Prozess des Lesens und der Begriffsbildung durch das Eintauchen
in die Materialität von Wörtern auf eine belebende, sinnlich
unsinnliche Art sichtbar.
Eckdaten:
Originalausgabe
November 2001
Edition diá, Berlin
168 Seiten mit rund 3500 Stichworten und 190 Abbildungen,
18 x 11,7 cm, Hardcover, zweifarbiger Schutzumschlag
Euro 17.-/ sFr 32.-
ISBN 3-86034-153-7
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